„Alles nur Windhauch – Es gibt nichts Neues unter der Sonne“
Dreifaltigkeitskirche Bludenz,
7. Oktober 2023
Kurz nach Sonnenuntergang kommt Bewegung in die Fassade der mittelalterlichen Spitalskirche im Bludenzer Städtle: wie von Geisterhand schreibt sich mit weißer Licht-Feder der Satz Es gibt nichts Neues unter der Sonne auf das alte Gemäuer. Mehrmals untereinander, bis sich darüber und zwischen die Zeilen ein nächster Satz einschreibt: was geschehen ist, wird wieder geschehen, was man getan hat, wird man wieder tun. Das Schreiben geht weiter und weiter, neben-, über und ineinander, bis die gesamte Fassade in ein Gewebe abstrakt-informeller Lichtzeichen gekleidet ist. An einer Stelle verdichten sich die längst unlesbar geratenen Sätze zu einem hellen Kreisgeflecht, das sich in alle Richtungen dehnt wie eine zum Blauen Riesen anwachsende Sonne.
Von Anfang an wird dieses Geschehen von Klängen begleitet, die bisweilen sphärisch-leicht anmuten, dann wieder dramatische Verdichtung annehmen.1 Etwa dann, wenn das Licht der expandierten Sonne in schwarzer Handschrift mit den gleichlautenden Versen überschrieben wird. Ab jetzt gewinnt das Schwarz die Oberhand, mutiert zur großräumigen Leere. Vor Eintritt der totalen Finsternis blitzt da und dort noch ein erlöschendes Schriftfragment auf.
„Ich beobachtete alle Taten, die unter der Sonne getan wurden. Das Ergebnis: Das ist alles Windhauch und Luftgespinst“, schrieb der weise Kohelet im alttestamentarischen Buch des Tanach.²
Im Sommer 2022 übertrug Lothar Aemilian Heinzle dessen Sentenzen zuerst auf ein Naturmonument – auf 30 tonnenschwere Steine im Bachbett des Grubser Tobels.³
Jetzt, im Herbst 2023, verleiht der Künstler den desillusionierenden Erkenntnissen des Kohelet die Leichtigkeit und Flüchtigkeit eines Windhauchs. Nicht nur während der temporären Außenprojektion, sondern auch im Inneren der Kirche. Hier hängen mit Graphitstift auf halbtransparentes Seidenpapier geschriebene Zeichnungen frei im Raum: Wieder wandelt sich die Schrift in kosmisches Rauschen, und wieder taucht die Sonne auf und ab, mal als ausgesparter weißer Fleck, mal als dunkle Scheibe, mal als blauer Schatten.
Seit den 1990er Jahren regt Lothar Aemilian Heinzle über seine Installationen in Natur- und Kulturräumen zum meditativen Nachdenken über Werden und Sein, Psyche und Physis, Licht und Dunkelheit … an. „Auch wenn wir alle nur ein Windhauch sind, ein Sandkorn in der Unendlichkeit des Universums, sind wir doch ein Teil eines gewaltigen Werks.“ Und stehen damit auch in Verbindung zu allem, was außerhalb unseres mikrokosmischen Ichs geschieht.
Lucas Gehrmann.
1 Zur Komposition und Aufführungspraxis von Georg Friedrich Haas‘ in vain s. z.B. Bernhard Günther, Werkeinführung. In: Universal Edition, Wien 2000, www.universaledition.com/georg-friedrich-haas-278/werke/in-vain-7566?form=reprint
2 Kohelet ist ein Buch des Tanach, das dort zu den Ketuvim („Schriften“) gehört. Im christlichen Alten Testament wird es zu den Büchern der Weisheit gezählt. https://de.wikipedia.org/wiki/Kohelet#Windhauch
3 https://heinzle-windhauch.at/progresswindhauch