Windhauch
Lucas Gehrmann
Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Doch zu entdecken gibt es Vieles an einem geheimen Ort im Rungeliner Wald.
Der von Süden kommende, über das Rätikon ins Klostertal abfallende und von dort ins gegenüberliegende Grubser Tobel aufsteigende (Föhn-)Wind erzeugt zu bestimmten Tageszeiten, also im Wandel der Temperatur „unter der Sonne“, in eben diesem Wildbach-Graben temporäre Soundscapes – feine akustische Sensationen vor einer monumentalen Landschaftskulisse.
Einem in mehrfacher Hinsicht besonderen Stein, der an der Erzeugung dieser Klänge maßgeblichen Anteil hat, gab Lothar Ämilian Heinzle einen Namen, der sich schon von weiterer Ferne an der Westflanke dieses etwa 30 Tonnen gewichtigen Sturzblocks lesen lässt: WiND/HauCH. Das eigentlich Besondere dieses Steins ist seine Position: er steht in potenziell labiler Lage an der Kippe eines fast 100 Meter tiefen Abgrunds. Ein etwas heftigerer, aus dem Erosionskessel von oben kommender Windhauch – oder wahrscheinlicher: ein starker Wassersturz oder Mur-Strom – könnte diesen Brocken, so sieht es aus, praktisch jederzeit in die Tiefe stürzen lassen.
Dann würden sich zwar der Klang des Windes, die Lage und die Form des Titel-Steins dieser insgesamt weitläufigen Land Art-Installation verändern, nicht aber deren künstlerisches Konzept: Lothar Ämilian Heinzles „Windhauch“-Projekt inkludiert Veränderung, Transformation und Neuinterpretation des jeweils aktuell Bestehenden. Denn schließlich ist alles – nicht nur in der Natur – beständig im Fluss.
Heißt das aber auch, dass „alles“ sich permanent substanziell ändert? Folgt nicht der Fluss selbst bestimmten (Natur-)Gesetzen, die unveränderlich sind? Und unterliegen die sich „im Fluss“ befindlichen Dinge und Phänomene nicht eher äußeren Wandlungen als inneren, prinzipiellen Veränderungen? Gibt es so besehen überhaupt je etwas „Neues“?
Zu dieser Frage scheiden sich seit jeher die Geister. Aus heutiger Sicht ist sie mit der Frage verknüpft, ob bzw. wie „deterministisch“ das Universum ist – ob nämlich alles im Universum vorbestimmt sei oder nicht. „Eine Antwort wird von der endgültigen Theorie abhängen, mit der sich die Kluft zwischen Quantenphysik und Relativitätstheorie überbrücken lässt – und so eine Theorie liegt noch in weiter Ferne“, sagt etwa der US-amerikanische Wissenschaftsphilosoph Eddy Keming Chen.1 Entschiedener äußert sich hierzu der Schweizer Naturheilpraktiker André Blank: „Es gibt nichts ‚Neues‘ im Universum. Auch kein ‚neues Wissen‘. Das ganze Wissen war immer schon im Meer aller Möglichkeiten vorhanden – und wird es immer sein. Wir können Wissen nur ‚neu‘ entdecken, aber nicht ‚neu‘ erfinden.“2 Und aus der Sicht des „spekulativen Realismus” sagt der französische Philosoph Quentin Meillassoux mit Blick auf die mögliche Veränderbarkeit von Naturgesetzen: „Wir behaupten, dass sich die Naturgesetze tatsächlich ohne Grund verändern können, trotzdem erwarten wir nicht [...], dass sie sich unaufhörlich verändern.” Meillassoux bejaht die Annahme, „dass die Dinge fähig sind, ‚tatsächlich und ohne jeden Grund‘ das launenhafteste Verhalten anzunehmen, ohne deswegen den gewöhnlichen und alltäglichen Bezug, den wir zu den Dingen haben können, zu verändern.“3
Lothar Ämilian Heinzle, der zu seiner „Windhauch“-Installation schreibt: „An einem geheimen Ort in der südlichen Bergregion Vorarlbergs steht ein monumentales Kunstwerk, das die Erkenntnisse der letzten 3000 Jahre relativiert“, fand eine wesentlich früher geäußerte Aussage als adäquat für seine Intervention. Vor etwa 2300 Jahren nämlich hatte ein Weiser namens Kohelet, der sich selbst als „Davidsohn, der König in Jerusalem war“ betitelte, konstatiert: „Was geschehen ist, wird wieder geschehen / was man getan hat, wird man wieder tun: / Es gibt nichts Neues unter der Sonne.“4
Den letzten Satz dieses Verses zerlegte Heinzle nun in dessen einzelne Buchstaben, um sie Zeichen für Zeichen insgesamt 30 ausgewählten, oberhalb des Windhauch-Blocks im Grubser Tobel liegenden Steinen ein- beziehungsweise auf-zuschreiben.
Eine weitere Quintessenz der Erkenntnisse aus dem antiken Buch Kohelet, die sich dort refrainartig wiederholt, bildet dann auch die Quelle für den Titel und das Schlusswort der sich über eine Länge von insgesamt ca. 300 Metern und über 100 Höhenmeter erstreckenden Kunst-Intervention: „Windhauch, Windhauch, sagte Kohelet, das ist alles Windhauch“.5
Während dieser vom Künstler in die Natur geschriebene Text sowohl von der Flüchtigkeit äußerlicher Werte als auch von der ständigen Wiederkehr des Immer-Gleichen handelt, und die Installation selbst bewusst diesem Dualismus von kontinuierlichen und transformierenden (Natur-)Kräften ausgesetzt ist, beruht ihre Komposition weder auf Improvisation noch auf Repetition. Vielmehr hat, wie Heinzle sagt, jede Positionierung und jede Farbgebung seiner Buchstaben „Hand und Fuß“. Die sieben Wörter des Satzes „es gibt nichts Neues unter der Sonne“ bilden jeweils eine farbliche Gruppe – vom zuoberst liegenden „ES“ in Rot-Gelbtönen bis zur unten positionierten „SONNE“ in gelb bis orange gefärbten Steinen. Ein Buchstabe aber innerhalb der Gruppen tanzt komplementär stets aus der Reihe.
„Dieser Platz, auf dem jetzt die Steine mit dem Wort ,Sonne‘ weilen“, sagt der Künstler zudem, „ist ein energetischer Kraftort. Man spürt, dass sich hier besondere Energien vereinen. Diese Stelle hat etwas Tiefes, da konzentrieren sich besondere Kraftströme. Das ist nicht nur sinnlich zu spüren, es ist auch physisch zu sehen: an dieser Stelle verschmelzen natürliche Kräfte.“
Dies ist auch die Stelle, wo der Wind, so er gerade vom Tal in das sich ab hier V-förmig nach oben öffnende Tobel aufsteigt, seine sphärisch anmutenden Klänge erzeugt. An anderen Tagen werden diese Sounds fortissimo übertönt vom tosenden Wildwasserbach, der auf der Talseite des Windhauchsteins jäh in die Tiefe stürzt. Zwar ohne diesen Stein bisher mitgenommen zu haben, nicht aber ohne die Farbe der Sonnenwortzeichen en passant und kontinuierlich mit Geröllsand zu polieren –, so lange, bis mit der Farbe auch die Buchstaben und mit ihnen die Worte des Kohelet verblasst sein werden. Was aber sowohl der zeitgenössische Künstler als auch der antike Autor jener Zeilen voraussah, indem Letzterer an anderer Stelle schrieb: „Zwar gibt es bisweilen ein Ding, von dem es heißt: Sieh dir das an, das ist etwas Neues – / aber auch das gab es schon in den Zeiten, die vor uns gewesen sind. Nur gibt es keine Erinnerung an die Früheren / und auch an die Späteren, die erst kommen werden, auch an sie wird es keine Erinnerung geben / bei denen, die noch später kommen werden.“ 6
Es gäbe noch viel zu sagen und zu erzählen zu und über Lothar Ämilian Heinzles Land Art-Installation im Rungeliner Wald, im Vergleich etwa mit Land Art-Projekten und -Ideen anderer Künstler des 20. und 21. Jahrhunderts oder auch mit solchen, die weit älter sind und nicht „Art“ genannt werden, weil es für Kunst noch keinen Namen gab von mehreren Tausend Jahren. Dazu zählen etwa die monumentalen präkolumbianischen Felszeichnungen an den Ufern des oberen Rio Orinoco, die aus heutiger Sicht „eine potenzielle multizentrische Mythenlandschaft darstellen, in der kosmologische Konzepte und Erzählungen in die Landschaft eingeschrieben wurden, um ein gemeinsames Verständnis davon zu vermitteln, wie die Welt – in der die Menschen leben – von mächtigen Kräften geformt wurde.“ 7
Halten wir es aber besser noch einmal mit dem alten Kohelet, der nämlich auch sagte: „Es gibt viele Worte, die nur den Windhauch vermehren. Was nützt das dem Menschen?“ 8
Zu empfehlen ist aber unbedingt eine Begehung des Grubser Tobels vom Windhauchstein bis hinauf zum Wörtchen ES – solange es noch „neu“ ist.
Literatur
1 Eddy Keming Chen, „Ist alles im Universum vorherbestimmt – wegen der Quantenmechanik?“ In: Spektrum der Wissenschaft, Heidelberg, 2. 1. 2024, www.spektrum.de/news/determinis-mus-ist-wegen-der-quantenmechanik-alles-vorherbestimmt/2202457.
2 André Blank, Die Macht der Manipulation. Von Rhetorik bis MK-Ultra. Rottenburg a. N.: Kopp Verlag 2019.
3 hier zit. nach: Armen Avanessian (Hg.), Realismus Jetzt. Spekulative Philosophie und Metaphysik für das 21. Jahrhundert, Berlin: Merve 2013 (s.a. http://www.spekulative-poetik.de/).
4 Das Buch Kohelet, Kapitel 1, Vers 9
(Koh 1,9), in: Universität Innsbruck (Hg.): Die Bibel in der Einheitsübersetzung. www.uibk.ac.at/theol/leseraum/bibel/koh1.html.
5 Koh 12,8. Windhauch, das Leitwort des Koheletbuchs, lautet hebräisch hevel, im Status constructus: havel. „Das Nomen bezeichnet konkret den Lufthauch und metaphorisch etwas Leichtes, Unbeständiges. Außerhalb des Koheletbuchs begegnet hevel in der Hebräischen Bibel in Klagen über die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens. Vermeintlich Wertvolles wie Reichtum oder militärische Stärke kann sich als hevel erweisen [...]. Kohelet nimmt diesen Sprachgebrauch auf, gibt dem Wort aber auch eine eigene Bedeutung.“ https://de.wikipedia.org/wiki/Kohelet#Windhauch.
6 Koh 1,10-1,11.
7 Koh 6,11.
8 „Monumental snake engravings of the Orinoco River“, in: Cambridge University Press, 04 June 2024, https://www.cambridge.org/core/journals/antiquity/article/monumental-snake-engravings-of-the-orinoco-river/147F83AA4381153C4D0F4EA4817B3766.